re...re...re...1.: Gespräch mit Maia Traine

Gespräch zwischen Mira Hirtz und Maia Traine
Café Geschwister Nothaft in Neukölln, Berlin, 05.07.14 
veröff. 19.07.2014 von Mira Hirtz

Mira Hirtz:  
Ich kenne Re-enacment und Reproduktion vor allem aus der Bildenden Kunst. Es ist dort ein großes immer wiederkehrendes Thema, spätestens seit den 60ern, dass Performances wiederholt und wieder auf die Bühne gebracht werden. Aber im Tanz habe ich das Gefühl, dass es noch eher neu ist oder auch theoretisch noch nicht so sehr aufgearbeitet. Zurzeit gibt es aber viele Projekte, auch gerade hier in Berlin, die versuchen, das Thema zu greifen. Ich frage mich, warum das immer mehr im Kommen ist, warum ich gerade überall „Tanzgeschichte“, „Tanzerbe“ und so weiter höre. Glaubst du, dass es im Tanz eine Notwendigkeit gibt, sich nun einen Kanon und eine Geschichte sozusagen zu bauen?  

Maia Traine:  
Das weiß ich nicht genau – und ich finde es auch schwierig. Ich habe selbst gemerkt, als ich mich damit beschäftigt habe, dass es da sehr viel Konfusion gibt: Manche reden von Re-enactment, andere sagen Re-staging oder Staging oder Rekonstruktion. Gerade in der Tanz- und Performancekunst, in der ja jede Aufführung einmalig ist – das wird immer betont – was bedeutet es da überhaupt, ein Werk wieder zu zeigen? In welchem Augenblick kann man überhaupt von einer Rekonstruktion sprechen? Wie du sagst gibt es da theoretisch viele verschiedene Positionen. Ich glaube beim Tanz ist es vielleicht auch einfach so, weil erst seit 50 Jahren regelmäßig aufgezeichnet wird – Video und so weiter – sodass Stücke einen besonderen Reiz darstellen, von denen nur ein paar Notizen übrig sind, wie bei „Sacre du Printemp“ von Igor Stravinsky [war ein russischer Komponist] und Vaslav Nijisnki [war ein russischer Balletttänzer und Choreograf] oder auch die Version von Mary Wigman [ war eine deutsche Tänzern und Choreografin] - die kürzlich rekonstruiert wurde.  […] Das ist natürlich mit sehr vielen Fragen verbunden: Kann man sich auf die Zeitzeugen verlassen, was sind das für Notizen, inwiefern ist das nicht sowieso aus der heutigen Sicht ein ganz anderes Stück? Es gab eine ganz interessante Diskussion auf dem „Sacre du Printemp“-Kongress letztes Jahr, wo es darum ging, dass die Rekonstruktion Mary Wigman’s bezüglich Gender sehr patriarchal sei; diese starken Männer und die Frauen, die beschützt werden müssen. Eine Referentin, Jack Halberstam, hat das Original so gedeutet, dass es eigentlich ganz queer ist und genau diese heteronormative Forderung aufhebt. Warum macht Mary Wigman genau das Gegenteil? Emma Lewis Thomas [amerikanische Tänzerin und Professorin für Tanzgeschichte, die an der Rekonstruktion mitgewirkt hat] hat dann gesagt: Das waren eben die 50er, direkt nach dem Krieg, das war eine ganz konservative Zeit. Heutzutage würden wir das anders sehen. Das ist interessant, was da transportiert wird und wie.  

MH:  
In der Bildenden Kunst geht es dann oft um kritische Distanz zur Vergangenheit und Hinterfragen des Kanons und warum, was es bedeutet, wenn man etwas Vergangenes heute zeigt. Wie im Beispiel der Gender-Thematik – die Rekonstruktion findet eben heute statt, es kommt ja immer noch etwas hinzu. Beim Tanzfond.erbe-Projekt gibt es viele Interviews, in denen ich gehört habe, dass es hier erst einmal darum geht, einen Kanon zu schaffen, weil es den noch gar nicht so gibt. Tanz ist wahrscheinlich eine der ältesten Ausdrucksformen überhaupt der Menschheit, aber trotzdem ist er als zeitgenössische Kunstpraxis eher jung, oder?  

MT:  
Ja, auf jeden Fall. Wie ich hier die Meinung in den letzten Jahre am Seminar [für Tanzwissenschaft an der FU Berlin] empfunden habe, wehren sich die Wissenschaftlerinnen eher dagegen, einen Kanon zu vermitteln. Im Studium zum Beispiel gibt es das Propädeutikum, wo man einen Einblick bekommt in verschiedene Themen rund um Tanz, aber es gibt keine Geschichte des Tanzes, das wird nicht gelehrt. Das ist natürlich auch eine Personalfrage, aber es ist auch eine Entscheidung, den Schwerpunkt nicht auf Tanzgeschichte zu setzten und keine Kanonisierung zu betreiben – weil das ja auch immer heißt, du wählst etwas aus, das da eine Art von autoritärer Instanz ist, die sagt, was es wert ist, in den Kanon aufgenommen zu werden und was nicht. Es ist also schon problematisch, einen Kanon zu bilden. […] Ein weiterer Eindruck von mir ist, dass es in Deutschland einen anderen Bezug gibt zu Tanz und Tanzgeschichte als in anderen Ländern. In Frankreich beispielsweise ist das Tanzerbe viel präsenter und der Tanz als Kunstform auch viel mehr angesehen. Hier in Deutschland schlägst du die Zeitung auf und du kannst sofort eine Besprechung lesen zu einem neuen Buch, aber nur sehr wenige Rezensionen zu Tanz, geschweige denn zu zeitgenössischem Tanz abseits der Ballettbühne.  […] Gesamtgesellschaftlich hat der Tanz keinen so wichtigen Platz mehr. Es ist die Frage, woher das kommt. Ich glaube es hat unter anderem viel mit der Geschichte von Deutschland zu tun, da es nach dem Krieg einfach bestimmte Tanztraditionen gab, die erst mal ruhen mussten. […]  

MH:  
Oftmals werden ja Performance und auch Tanz als eine Kunstform angesehen, die Chancen birgt in Hinsicht darauf, dass sie flüchtig sei, nicht zu greifen, da sie selbst innerhalb des Kunstsystems noch einmal aus der Logik von Reproduktion, Erbe, Festalten und so weiter herausfalle – und gleichzeitig ist da der Wunsch, sich zu etablieren…  

MT:  
…dass man sozusagen die Werke hat, auf die man sich berufen kann. Dieses Bedürfnis, dass es Autoritäten gibt, auf die man sich berufen kann. Eine Rechtfertigung bezieht.  

MH:  
Ich möchte dich nach deiner Meinung fragen: Wie kann man in Tanz und Performance mit Referenzen auf andere PerformerInnen und KünstlerInnen umgehen? Oft bezieht sich hier Bewegung auf Bewegung, einen Medienwechsel gibt es eher selten. Aber einen Wechsel des Körpers eben schon. Im Rahmen von Tanz.fond-erbe habe ich „Undo Redo Repeat“ gesehen. Da sind zwei Tänzerinnen, die sich eigentlich sehr spannend genau damit auseinandersetzen: Sie haben sich bekannte Choreografinnen und Choreografen ausgesucht wie William Forstyhe und Pina Bausch, aber zeigen nicht Projekte von diesen, sondern das, was nachfolgende PerformerInnen bei ihnen gelernt haben, was sie als spezifische Erinnerung haben an diese Zeit. 

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Das nehmen die beiden Tänzerinnen in „Undo Redo Repeat“ als Impuls und erarbeiten etwas von dort ausgehend. Und trotzdem war für mich das allerpräsenteste im Moment der Aufführung diese beiden Körper und diese beiden Frauen mit ihrem Ausdruck. Es ist bestimmst auch gar nicht die Absicht gewesen, dass man das nicht so wahrnehmen sollte, aber…  

MT:  
Das spricht einen Punkt an, den ich selbst sehr interessant finde im Tanz: Etwas faken, oder etwas klauen – wann gehört eine Bewegung einer bestimmten Choreografin oder einem bestimmten Choreografen, wann ist das sozusagen „ihre oder seine Bewegung“? Vor einiger Zeit gab es das Beispiel von Beyoncé [amerikanische Sängerin und Schauspielerin], die in ihrem Video Bewegungen von Anne Teresa De Keersmaeker [belgische Tänzerin und Choreografin] getanzt hatte.

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Natürlich war das eine klare Referenz damals. Aber ich habe letztens auch ein Stück gesehen von Christoph Winkler [deutscher Performer und Choreograf], dass sich genau damit auseinandergesetzt hat [Titel: Dance!Copy!Right?]. Da gab es wohl einen Gerichtsfall, in dem es darum ging, dass eine Tanzschule ein Video gemacht hatte, in dem sie zeigen, welche Choreografien der Popstars sie lehren – Justin Timberlake [amerikanischer Sänger und Schauspieler] tanzt irgendwas und die bringen es dir bei. Eine Firma hatte geklagt, die dieses [Original] Video gemacht hatte, denn sie beanspruchten die Rechte an der Choreografie. Daraufhin gab es diesen ganzen Prozess: Was heißt das denn, ab wann gehört eine Bewegung dir?  In der Performance hat Christoph Winkler [Stück für Stück] seine Hand gehoben und gefragt, ist es jetzt meine Bewegung, oder erst jetzt, oder… 

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Ab wann gilt Urheberrecht im Tanz?  […] Ich glaube, je nach Inszenierung ist es sinnvoll, diese Differenz [von Original zu Rekonstruktion] zu erwähnen. Zum Beispiel hat Martin Nachbar [deutscher Tänzer und Choreograf] das ganz interessant gemacht, da er seine Rekonstruktion von Dore Hoyer’s „Urheben Aufheben“ kontextualisiert und vorher erzählt, wie er dazu gekommen ist. Was er für eine tänzerische Ausbildung hat und warum sein Körper nicht diese Spannungsmomente, dieses contract und release beherrscht, wie die AusdruckstänzerInnen der 20er Jahre, warum er das nicht machen kann, weil er einfach anders ausgebildet ist. Er deutet sozusagen vorher schon auf diese Unterschiede hin und tanzt dann diesen Tanz. Das fand ich eine sehr schöne Lösung. Aber es ist natürlich auch ein relativ diskursiver Zugang, ein sehr theoretisch angereicherter Zugang. Ich glaube das ist letztlich eine Entscheidungsfrage.  

MH:  
Aber was glaubt du ist das spannende daran – naja, das überhaupt zu tun? Sich das anzueignen und dann die Differenz aufzuzeigen? Es erinnert mich manchmal an die Thematik von „partizipativer Kunst“ als Stempel, der sagt, hier passiert etwas, das auf jeden Fall relevant und auf jeden Fall von Bedeutung ist. Ich habe einfach manchmal das Gefühl, wenn ich mir etwas anschaue, bei dem es um Rekonstruktion geht, dann ist von vorneherein der Anspruch im Raum, dass es intellektuell ist, diskursiv, dass es ein Bewusstsein dafür hat. Es beschäftigt sich auf jeden Fall mit etwas Interessantem, es ist in dem Sinne intelligent, dass es natürlich aktualisiert…und dann denke ich mir: Na und? Warum? Was ist der Sinn dieser Bezugnahme und dieser Referenzen?  

MT:  
Ich glaube es gibt unterschiedliche Motivationen, das zu machen. Zum einen kann ich mir vorstellen, dass es einfach so eine Art von Wiederentdecken einer Ästhetik ist, die nicht mehr da und präsent ist. Wie beispielsweise Moderner Tanz und Ausdruckstanz, der mit anderen Energien und Bewegungsrepertoires arbeitet, als das heutzutage im zeitgenössischen Tanz gemacht wird. Das nochmal rauszufinden und zu befragen, wo man herkommt – wieso machen wir das heute so, wieso sieht zeitgenössischer Tanz so aus, es könnte ja auch komplett anders sein – darüber nachzudenken ist glaube ich ein Bedürfnis vieler Tänzerinnen und Tänzer.  

MH:  
Daran kann ich vielleicht anknüpfen: Als jemand, der nicht ausgebildet ist im Tanz, wird mir häufig gesagt, ich bräuchte ja auch keine klassische Ausbildung heutzutage. Sehr viele zeitgenössische TänzerInnen setzten sich [in ihren Performances] aber doch kritisch damit auseinander, wo sie her kommen. […] Als würde eine Befreiungsnotwendigkeit herrschen.  

MT:  
Weil man im Tanz ständig mit diesen Kommentaren konfrontiert wird, wenn dort keine durchtrainierten athletischen Ballettkörper auf der Bühne stehen, die unglaublich virtuos mir ihrem Körper umgehen können: „Das ist doch kein Tanz, das kann ich aber auch, mich so auf die Bühne legen und rumrollen“. Im Tanz sind diese Vorurteile immer noch stärker als beispielsweise in der Bildenden Kunst, wo das ja schon vor hundert Jahren abgelegt wurde – „Alles kann Kunst sein“.  

MH:  
Du meinst, im Tanz ist dieses Statement noch nicht so lange präsent?  

MT:  
Die ersten, die angefangen haben das zu brechen in der Tradition des westlichen Tanzes sind ja John Cage [war ein amerikanischer Künstler, Musiker und Komponist] und Merce Cunningham [war ein amerikanischer Tänzer und Choreograf] und in der Folge dann hauptsächlich das Judson Dance Theater [Gruppe aus TänzerInnen und Künstlerinnen in den 60ern]. Sie haben Virtuosität und Bühnensituation befragt und angefangen, sehr alltägliche Bewegungen in ihre Tänze, Performances oder „Concerts“, wie sie es genannt haben, zu integrieren. Das ist aber im Tanz sehr lange nicht, vielleicht immer noch nicht, institutionalisiert worden.  

MH:  
Das hat vielleicht eher die Performance in der Bildenden Kunst beeinflusst.  

MT:  
Eine andere Sache: Letztes Jahr auf dem Tanzkongress gab es sehr viele Panels, in denen es um postkoloniale Themen ging.  […]  Interessant, dass das Tanzerbe auch daraufhin befragt wird, inwieweit diese politischen Machtstrukturen sich im Tanz widerspiegeln und ästhetisch übersetzt und dann übernommen werden. Das finde ich ganz spannend, wenn es ums Tanzerbe geht. Auch, wie die einzelnen ChoreografInnen damit umgehen, ob man darauf hindeutet oder nicht. Ich fand ehrlich gesagt die Rekonstruktion von Mary Wigman echt problematisch, ich fand die ganze Ästhetik faschistoid, ich konnte es nicht glauben. Als ich es gesehen habe, dachte ich, das kann man jetzt nicht mehr zeigen. Das wirkt echt lächerlich.  

MH:  
Dann ist die Frage, was man damit macht, oder? Zeigt man, wie lächerlich Mary Wigmans Performance eigentlich damals war oder zeigt man es heute gar nicht? Ich frage mich auch: Für wen eigentlich? Um was geht es? Geht es tatsächlich um eine Vermittlung, geht es noch um den Moment der Performance, der ja als so hoch und heilig deklariert wird oder geht es fast schon um eine theoretisch analytische Vermittlung? Oft gibt es eine Ausstellung und ein Heft dazu und noch Videos und dann noch die Performance…  

MT:  
…ganz pädagogisch…  

MH:
…ganz viele Medien, sodass mir klar wird, es muss anscheinend eingebettet werden. Aber wie nötig ist der Moment der Performance dann noch?  

MT:  
Genau, das ist dann witziger Weise fast schon wie eine…  

MH:  
…Werbung…  

MT:
…ja, fast schon das Banalste an allem. […] Zu „Museé de la danse“ [von Boris Charmatz, französischer Tänzer und Choreograf: In „20 Dancers for the XX Century“ lässt rund um das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park Performer im öffentlichen Raum Positionen der Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts wiederaufführen] im Treptower Park

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– ich finde es toll zu sehen, wie viele verschiedene Moment es gibt, das Format war ja auch recht locker, man konnte sich darin bewegen. Und klar, nachdem ich Tanzwissenschaft studiert habe, macht es auch Spaß, etwas da und dort wiederzuerkennen.  

MH:  
Das hat mir auch sehr viel Spaß gemacht, da so herumzulaufen. Bei „Musée de la danse“ geht ja auch um das Durcheinanderbringen von Formaten: Performance, Theater und Museum, also auch Objekte und Bewegung. Es geht darum, das alles nicht mehr so eng zu denken und zu vermischen. Ich finde das sehr spannend, trotzdem frage ich mich, was ist eigentlich der Mehrwert davon? Über sein eigenes Format nachzudenken finde ich total wichtig, aber was ist dann das Resultat daraus? Was ermöglicht das überhaupt? […] Mit Erbe im Tanz ist es eigentlich eine ähnlich Frage für mich – was ist eigentlich der Mehrwert? Was ist die Konsequenz damit…  

MT:  
…damit es nicht zu einem Selbstzweck wird – wir machen das jetzt, weil es so schön ist.    


Vielen Dank an Maia Traine! Sie studierte Philosophie und Tanzwissenschaft in Köln und Berlin, als Autorin und Übersetzerin arbeitet und lebt sie in Berlin; gemeinsam mit Lou Hoyer ist sie Herausgeberin der Zeitschrift NICHTSALSSCHOENHEIT, www.nichtsalsschoenheit.wordpress.com.